Einen Marathon mit Genuss laufen? Eine Frage des Mindsets!

Genuss-Marathon. Das liest sich für einige Menschen vermutlich wie ein Oxymoron und entstammt nicht meiner Wortkombinationskreativität, sondern fiel im aktuellen Podcast von Laufen, Liebe, Erdnussbutter, die ich bekanntermaßen regelmäßig höre, seitdem ich in die Subkultur des Laufens hineingeschnuppert habe. Die Frage, die die Podcast-Teilnehmer auch etwas rhetorisch in den Raum warfen und nicht abschließend diskutierten, lautet also, ob man einen Marathon überhaupt mit Genuss laufen kann? Ich fand, dass dies ein spannender Gedanke war.

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Bild: FabyGreen / Pixabay.com

Eine Frage der Einstellung: das semantische Priming

Die Phrase „Alles eine Frage der Einstellung“ ist im deutschen Sprachgebrauch weit verbreitet und wie wir gleich noch sehen werden, ist dies alles andere als nur eine inhaltsleere Floskel. Würde man insbesondere Hobbyläufer, die noch nie einen Marathon gelaufen waren, nach einer Liste an Adjektiven fragen, die den Marathonwettkampf beschreiben würden, wäre die Liste vermutlich mit Worten wie „anstrengend“, „herausfordernd“ oder „lang“ gefüllt.

Das wären zumindest Wörter auf meiner Liste gewesen, die ich im Vorfeld meines ersten Marathons aufgeschrieben hätte. Der Respekt war damals riesengroß und ich hatte keinesfalls das Gefühl einem Gegner auf Augenhöhe entgegenzutreten. Vielmehr sah ich mich als Herausforderer, der nicht nur auf seine eigenen Fähigkeiten, sondern auch einen guten Tag angewiesen wäre. Ob das letztendlich der nüchternen Wahrheit entsprach oder ich an einem ganz normalen Sonntag meinen ersten Marathon erfolgreich unter 4 Stunden finishte, kann ich heute nicht mehr beurteilen.

Was ich allerdings sagen kann, ist, dass es ein bittersüßer Schmerz war, der mich die letzten Kilometer begleitete. Wieder so ein Oxymoron und in diesem Fall tatsächlich eines, denn so ein richtiger Genuss war die Erfahrung des ersten Marathons eher nicht. Es hatte schon seine Gründe, dass ich im Anschluss die Laufschuhe für einige Monate fast gänzlich an den Nagel hing und erst gut ein halbes Jahr später erstmals wieder mehr als 10 Kilometer am Stück lief.

Vielleicht wäre es aber auch anders verlaufen, wenn mein damaliges Ich andere Wörter auf seine Liste aufgenommen hätte. In der Psychologie beschreibt der Begriff des semantischen Primings das Phänomen, wenn wir aufgrund der Zuschreibung von Eigenschaften mit einer gewissen Erwartungshaltung an Aufgaben, Dinge oder Ereignisse herangehen. Verkürzt dargestellt: Wenn ich den Marathon für anstrengend halte, werden die 42,195 Kilometer eine schwerere Herausforderung, als wenn ich mit positiven Gedanken an die Startlinie herantrete.

Psychologen mögen mir die vielleicht etwas ungenaue Simplifizierung verzeihen. Als Soziologe kann ich aber auch auf das Thomas Theorem verweisen, das letztendlich die gleiche Botschaft vermittelt: If men define situations as real, they are real in their consequences. Es mag nicht alles eine Frage der Einstellung sein, aber wir sollten unsere Einstellung auf jeden Fall in Frage stellen!

Ali hasste jede Trainingsminute… sei nicht wie Ali!

Mohammed Ali sagte einmal, dass er jede Trainingsminute gehasst habe, aber die Qual für den Moment ihn zum Champion in der Zukunft machen würde. Ähnlich wie Mike Tyson darauf hinwies, dass Disziplin bedeuten würde, etwas, das man hasst, so zu tun, als liebe man es. Im Bodybuilding, um nicht nur die Boxer zu Wort kommen zu lassen, wies ein Ronnie Coleman darauf hin, dass die Leute im Training nicht bereit wären, das Notwendige zu investieren, um ihre Ziele zu erreichen. Harte Worte von harten Männern, die auf ihrem Leistungszenit ihre Sportarten prägten und ihren Lebensunterhalt damit verdienten. Zwei Punkte, die auf mich niemals zutreffen werden.

Das Leben sollte in Balance sein und ebenso ist es erstrebenswert das Verhältnis zum Sport oder noch mehr dem Training in dieser zu halten. Wer die Aktivität, der er oder sie nachgeht, nicht aus vollem Herzen lebt, sollte überlegen Zeit und Energie anders zu investieren. Man sollte immer lieben, was man tut. Das bedeutet nicht, dass man es sich in seiner Komfortzone bequem machen und die Füße hochlegen sollte. Wer im Wettkampf bestehen will, muss es schaffen, sich immer wieder im Training zu quälen. Doch wer mit Leidenschaft eine Aktivität verfolgt, wird lernen, diese Qual zu lieben. Was für andere ein Oxymoron sein mag, wird für einen selbst zum Genuss.

Verpatze die Generalprobe und glänze bei jeder Aufführung

Das Austesten der eigenen Grenzen im Training und sich auch mal einen Schritt zu weit hinauswagen, sollte dabei fester Bestandteil des sportlichen Lebens sein. In Zeiten von Social Media neigen die meisten von uns zum Präsentieren ihrer Erfolgsgeschichten. Doch das Leben ist nicht die Aneinanderreihung von Erfolgen, sondern eine Geschichte vom Hinfallen und wieder Aufstehen. Je öfter wir im Training aufstehen mussten, desto einfacher wird es uns im Wettkampf fallen, sollten wir mit einer unerwarteten Situation konfrontiert werden, denn wir werden im Aufstehen immer besser werden.

Ich selbst bekam es beim heutigen Trainingslauf mal wieder zu spüren. Nachdem ich den Pisa Marathon eine Woche zuvor wie bereits den Graz Marathon 2018 unter 3 Stunden 30 min beenden konnte und damit einen ungeplant erfolgreichen Saisonabschluss hatte, ging es zunächst am Freitag wieder ins Training. Die Beine machten beim schweren Kreuzheben deutlich, dass sie noch nicht vollständig erholt waren und nachdem einen Tag später unter anderem das Freeletics Workout Artemis auf dem Plan stand, waren heute 33 Kilometer als Nüchternlauf vorgesehen. Erschwerend kam hinzu, dass ich den Lauf erst am Nachmittag startete und damit ungeplant bereits 17 Stunden fastete, und dass ich mich im Regen nicht witterungsangepasst anzog.

Klingt wie eine lange Liste an Ausreden, auf die ich mich hätte berufen können, als die Beine nach 23 Kilometern das erste Mal schwer wurden. Ich war hin und her gerissen, die Einheit abzuhaken und zu verkürzen. Bei Kilometer 26 war mein Haus das erste Mal in greifbarer Nähe… und ich bog in die andere Richtung ab, um die Einheit nicht zu beenden oder zumindest noch nicht an dieser Stelle aufzugeben. Drei Kilometer später fiel mir das Laufen noch schwerer und ich hatte die Wahl zwischen dem direkten Nachhauseweg oder dem Sammeln weiterer Kilometer. Ich sammelte und quälte mich, um bei 32 Kilometern ein drittes Mal in Versuchung zu geraten. Auf einen Kilometer kommt es doch nicht an? Das sieht John Kunkeler sicherlich anders, der 1990 in Enschede das einzige Mal in seinem Leben unter 2 Stunden 30 den Marathon absolvierte. Nur um später festzustellen, dass die Strecke mit 41 Kilometern zu kurz vermessen war.

John ist heutzutage offizieller Vermesser von Veranstaltungen wie dem Hannover Marathon oder dem Berlin Marathon, wie er im Interview berichtet. John weiß, dass es auf einen Kilometer ankommt, und ich war an einem Punkt in meinem sportlichen Leben, an dem es insbesondere eine Frage der Einstellung war, ob ich den letzten Kilometer noch laufen würde. Ich tat es. Die 33 Kilometer waren geschafft, wenn auch insgesamt gut 10 Minuten langsamer als geplant. Doch ich weiß, dass mich Erfahrungen, wie der heutige Trainingslauf, in späteren Wettkämpfen weniger (ver)zweifeln lassen werden, wenn ich ins Stolpern gerate und drohe hinzufallen.

Ich habe gelernt, den Marathon zu genießen

Ich weiß nicht, ob ich die heutige Lektion gemeistert hätte, wenn ich mich nicht zuvor mit dem Genuss-Marathon gedanklich auseinandergesetzt hätte. Ich hätte die Reise in 80 Marathons um die Welt nicht in Angriff genommen, wenn ich die Marathon-Wettkämpfe (inzwischen) nicht genießen würde. Ich laufe keiner Zeit hinterher, sondern lasse den Dingen ihren Lauf, wobei auf dieser Reise auch durchaus mentale Härtetests auf mich warteten.

Ob man einen Marathon genießen kann, würde ich damit in jedem Fall bejahen. Je öfter wir im Training auch die ungenießbaren Brocken herunterschlucken, desto mehr Freiraum haben wir für das Erreichen der Balance. Wir verbringen unzählige Stunden in der Vorbereitung, aber nur wenige, um im Wettkampf zu laufen, zu leben und zu genießen.

Frank

3 Kommentar zu “Einen Marathon mit Genuss laufen? Eine Frage des Mindsets!

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