Was sind Niederlagen beim Laufen? Und wie geht man diesen eigentlich um? – Das sind zwei Fragen, über die ich mir in den letzten Tagen zunehmend Gedanken machte. Ich selbst hatte im Rahmen dieses Blogs schon das ein oder andere Mal von Niederlagen gesprochen, obwohl diese für Außenstehende möglicherweise gar nicht so wirken. Der Satz, dass Sieg und Niederlage oftmals nur durch eine schmale Grenze voneinander getrennt sind, ist wenig originell und dennoch wahr. Interessanter ist für mich aber der Gedanke, ob man bereit ist, sich einer Niederlage zu stellen.
Verletzungen verändern das Mindset
Der Bandscheibenvorfall, den ich mir zu Beginn des Jahres zugezogen hatte, war die vierte größere Verletzung in meinem gut 25-jährigen Sportlerleben. Verletzungen sind ein unvermeidbarer Bestandteil eines leistungsorientierten Trainings. Die Frage ist damit nicht, ob man früher oder später eine erleidet, sondern wie man mit diesem Umstand umgeht. Was tue ich im Vorfeld, um so etwas zu verhindern, und wie reagiere ich, wenn es dann doch geschieht.
In diesem Zusammenhang sollte man sich den dichotomen Charakter von Verletzungen ins Bewusstsein rufen. Sie mögen oftmals als plötzliche Ereignisse wahrgenommen werden, die von einem auf den anderen Augenblick zu einer Einschränkung führen. In Wirklichkeit sind sie in der Regel aber das Ergebnis eines langen Prozesses, bei dem Belastungen nicht durch ausreichend (aktive und passive) Entlastung aufgewogen wurden. Der Grund hierfür muss nicht zwangsläufig Unvernunft sein. Genetische Vorveranlagungen, zunehmende Leistungsfähigkeit, Umweltfaktoren oder schlichtweg der Alterungsprozess nehmen allesamt Einfluss auf den (mittel- und langfristigen) Regenerationsbedarf, ohne dass man dies wie einen Muskelkater unmittelbar bemerken würde.
Verletzungen tragen damit einen Teil dazu bei, dass der Fokus sich verändert. Wer Ursachenforschung betreibt, wird sich Gedanken darüber machen, wie man die Verletzung möglicherweise verhindert haben könnte. Wer die jeweilige Sportart nicht an den Nagel hängen will, wird sich Gedanken darüber machen, wie zukünftige Verletzungen vermieden werden könnten und sein bisheriges Handeln überdenken. Verletzungen üben auf diese Weise einen dauerhaften Einfluss auf einen Menschen aus, selbst wenn sie körperlich gänzlich verheilen. Verletzungen verändern das Mindset.
Das bio-psycho-sozial Modell
In der Medizin galt lange Zeit das biomedizinische Modell als vorherrschend. Krankheiten und Verletzungen wurden in erster Linie aus physiologischer Perspektive unabhängig vom Individuum im sozialen Sinn betrachtet. Hieraus entstand eine gewisse Diskrepanz zwischen der Arbeit von Ärzten und Krankenschwestern, die insbesondere durch den amerikanischen Mediziner und Psychiater George Engel thematisiert wurde. Gemäß seinen Ausführungen läge der Fokus der Krankenschwestern auf dem alltäglichen Leben des Patienten, wohingegen die Ärzte Diagnosen und Behandlungen in den Fokus ihrer Arbeit rücken würden.
Das durch Engel etablierte bio-psycho-sozial Modell sollte beiden Perspektiven gerecht werden und die komplexe Wirklichkeit besser erfassen. Krankheiten und Verletzungen führen nicht nur zu körperlichen Veränderungen, sondern ändern auch unsere gedanklichen Prozesse. Dies wiederum verändert unser Verhalten gegenüber anderen, was zu entsprechenden Gegenreaktionen führen kann. Je nach Gestaltung des Einzelfalls werden die Konsequenzen mehr oder weniger intensiv und nachhaltig ausfallen. In jedem Fall führen sie zu Veränderungen, die mehr als der selbstverständlich Prozess der Zeit sind.
Engel beschrieb den Genesungsprozess daher auch nicht als Wiedererlangung des ursprünglichen Status, sondern als eine Rückkehr zum gesunden Status. Körperlich mag die Krankheit oder Verletzung verheilt sein. Der Mensch ist dennoch nicht mehr derselbe wie zuvor.
Angst vorm Marathonlaufen?
Wenn Genesung ein Prozess ist und dieser nicht mit der Rückkehr zum ursprünglichen Status verbunden ist, stellt sich die Frage, wann dieser Prozess beendet ist oder besser, wie man dieses Ende erkennen soll. Die ersten Tage nach meinem Bandscheibenvorfall konnte ich keine 10.000 Schritte am Tag gehen. Die ersten Wochen war an Laufen nicht zu denken und die Überlegungen, ob ich wieder Marathon laufen könnte, sind mir immer noch präsent.
Gut ein halbes Jahr nach der Verletzung gab ich mir selbst die Antwort auf die Frage, ob man nach einem Bandscheibenvorfall wieder Marathon laufen könne. Körperlich war ich trotz eines sehr zufriedenstellenden Ergebnisses längst nicht auf dem Niveau vor der Verletzung angekommen. Die wahre Herausforderung blieb aber die mentale Veränderung. Ich hatte eine gewisse Angst vor dem ersten Marathon nach dem Bandscheibenvorfall. Diese Angst vor dem Marathonlaufen ist danach nicht ganz verschwunden.
Angst mag nicht ganz der richtige Begriff sein. Aber die Zuversicht, die Leichtigkeit, die Vorfreude, die mich vor den meisten Rennen begleitete, sind noch nicht auf dem Niveau des letzten Jahres. Auch hier mag dahinter ein gewisser Prozess stecken, der nicht allein der Verletzung geschuldet ist. Während der Münster Marathon oder der Rennsteiglauf wirkliche Highlights waren, ist mir durchaus noch bewusst, dass ich beispielsweise vor dem Lauf in Thessaloniki eine ähnliche mentale Müdigkeit empfand, wie einige Jahre zuvor vor dem Jerusalem Marathon.
Hinzu kommt, dass mir die heißen Temperaturen der letzten Wochen beim Laufen zu schaffen machen. Alles über 20 Grad sind nicht nur unangenehm, sondern auf Distanzen, die mehr als 10 Kilometer umfassen, auch spürbar leistungsmindernd. Entsprechend gab es in den letzten Wochen ein ständiges Auf und Ab bei den Trainingsleistungen. Dieser Umstand macht es für mich schwer, einzuschätzen, wie weit ich körperlich noch Aufholbedarf hab und inwiefern die äußeren Umstände sich negativ auf mein Training auswirken. Dies wiederum vergrößert die Unsicherheit, ob ich fit genug bin, um an den Start eines Marathons zu gehen.
Angst vor einer Niederlage
Im Zusammenhang mit meiner Bandscheibenverletzung und der erfolgreichen Rückkehr auf die Marathonstrecke hatte ich eine Podcastaufnahme mit Mark Maslow. Wir sprachen über die Verletzung, den Genesungsprozess und den Duisburg Marathon 2022. Im Anschluss gab Mark mir noch einmal das Feedback, dass unter anderem mein lösungsorientiertes Mindset ihm positive Impulse gegeben habe. Diese Rückmeldung beschrieb mein eigenes Selbstverständnis ganz gut.
Ich bin ein lösungsorientierter Mensch. Wo andere Probleme sehen, mag ich nicht zwangsläufig von dornigen Chancen sprechen. Ich versuche mich aber zumindest darauf zu konzentrieren, was ich ändern kann und in welche Richtung mir dies gelingen soll. Ein Teil dieses Vorgehens ist stets die Analyse der Situation.
Warum verspüre ich also so etwas wie eine Angst oder Unsicherheit? Ich habe Angst vor einer Niederlage oder besser gesagt: Ich habe Angst davor, den Marathon nicht unter vier Stunden zu laufen. Ob dies wiederum tatsächlich eine Niederlage darstellt, ist eine Frage der Definition. Meiner Definition.
Vor ein paar Jahren machte man mir den Vorwurf, dass ich gar kein echter Marathonläufer sei. Dieser elitäre Kreis würde die Distanz von 42,195 km in einer Zeit von unter 2 Stunden 30 Minuten bewältigen. Dass auf vielen Marathonveranstaltungen nicht mal ein Dutzend Teilnehmer diese zeitliche Grenze unterschreitet, hatte ich damals bereits in einem ausführlicheren Text thematisiert. Die vier Stunden setzte ich mir dagegen selbst einmal als Grenze, um der Teilnahme an den Marathons als Hybridathlet dennoch eine gewisse sportliche Herausforderung zu verleihen. Letztendlich ist sie aber genauso willkürlich wie die Hürde zum echten Marathonläufer.
Schrödingers Niederlage
Irgendwann werde ich das erste Mal einen Marathon in einer Zeit über vier Stunden finishen. Ich hatte ich mich schon mehrfach mental darauf eingestellt. Hitze, die Anreise bis ans andere Ende der Welt oder auch der Lauf eines Marathons nur einen Tag nach an einen Bodybuildingwettkampf: Bisher gelang es mir jedes Mal, früher ins Ziel zu kommen. Doch das Schwert des Damokles schwebt unvermeidbar über jedem Lauf. Die einzige Möglichkeit, die beschriebene Niederlage zu verhindern, wäre das Vermeiden der Herausforderung.
Die Niederlage würde zu Schrödingers Niederlage werden, wenn man es in Anlehnung an Schrödingers Katze so beschreiben möchte. Dies mag auf der einen Seite ein gewisser Schutz für meine eigene Identität sein, dass ich meine Marathons unter vier Stunden gefinished hätte. Andererseits wäre die Veränderung anderer Facetten meines Selbst ungleich größer. Wer sich Herausforderungen nur stellt, wenn es Garantien für den Erfolg gibt, meidet in Wirklichkeit mental zu wachsen.
Schwierigkeiten, Herausforderungen, Probleme, Hürden und Hindernisse… all dies sind Umstände, die unsere Zeit und andere Ressourcen verlangen und deren Ergebnisse eine gewisse Ungewissheit mit sich bringen. Das Risiko der Veränderung geht gleichzeitig mir der Chance einher, das eigene Denken und Handeln nachhaltig zu ändern.
Man sollte sich nicht kopflos ins Leben stürzen. Zu dieser Erkenntnis wird jeder früher oder später im Laufe seines Lebens gelangen. Doch das Risiko, eine Niederlage einzustecken, bietet stets auch das Potenzial daran zu wachsen. Sie sind in gewissen Rahmen wie Krankheiten und Verletzungen. Sie verändern uns, ohne dass wir allerdings diesem Veränderungsprozess machtlos ausgeliefert wären. Insofern halte ich es für wichtig, sich (dem Risiko) einer Niederlage zu stellen. Veränderung wird sich nicht verhindern lassen. Die Frage ist somit, wie wir mit diesem Prozess umgehen.
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Kurze Anmerkung und kann dann weg.
Letzte Zeile erster Absatz ist das Wort sich an die falsche Stelle gerutscht.
Schöne Grüsse
Da hatte mein Gehirn n Knoten. Musste es gerade noch dreimal lesen, um zu verstehen, was du meinst 😀 – ist korrigiert, danke!